25.08.2025
Jesus - Galiläer - Antisemit?

Am 22. August hielt Michael Weise (Lutherhaus Eisenach) in der Stadtkirche einen Vortrag über die "Nazifizierung und ‚Entjudung‘ in der evangelischen Kirche in der NS-Zeit". 

Michael Weise ist ein ausgewiesener Kenner eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren Kirchengeschichte: des Erstarkens des Antisemitismus in der Evangelischen Kirche in Deutschland in der NS-Zeit (Näheres zu seiner Person weiter unten). Im Rahmen der Veranstaltungen zum Israelsonntag 2025 (24. August) hatte ihn die Stadtkirchengemeinde zu einem Vortrag über "Jesus, der Galiläer -– Jesus, der erste Antisemit?" eingeladen. 

Nicht erst im Nationalsozialmus brach die Idee auf, Jesus könnte womöglich gar kein Jude gewesen sein. Erste Zweifel säte Johann Gottlieb Fichte (1762-1814). Und seine Überlegungen fanden Widerhall aufkommenden Antisemitismus, wie er sich z. B. bei Richard Wagner, Houston St. Champerlain und zunehmend auch bei kirchlichen Vertretern und Theologen fand – etwa bei Adolf Stoecker oder Reinhold Seeberg. Diese Entwicklung wurde von den Nationalsozialisten aufgenommen und weitergetrieben zu einem völkischen Christentum. 
Innerhalb der Kirche entstand die Bewegung (und Kirchenpartei) der "Deutschen Christen", die sich ganz dem völkisch-nationalen Christentum verschrieben hatte. In dieser Zeit kamen z. B. Nazi-Glocken auf – Glocken, deren Klang mit dem Reden Hitlers gleichgesetzt wurde. Viele weitere nationalsozialistische Symbole fanden Einzug in Kirchen, wurden auf Altarbehänge gestickt, in Glocken eingegegossen, in Fenstern, auf Kanzeln, in Fassaden etc. dargestellt. 
In Eisenach wurde das „Institut zur Erforschung (und Beseitigung) des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ gegründet, das es sich zur Aufgabe setzte, alle jüdischen Elemente aus der Bibel, aus der Liturgie, aus Gesangbüchern, aus Kirchenräumen und mehr zu tilgen. Es gab "Die Botschaft Gottes" heraus – eine völkisch-nationalistisch verunstaltete Bibel, ohne Altes Testament, ohne jeglichen Bezug zu Israel und zum Judentum. Jesus wurde als "Galiläer" bezeichnet; seine Herkunft aus dem Haus David (dem zweiten König Israels) überall getilgt und vieles mehr. 

Über einen Zeitraum von nicht einmal 150 Jahren war aus Teilen der Kirche eine antijüdische, antisemitische Institution geworden, die sich dem Nationalsozialimus anbiederte und in ihm ihre Zukunft sah. Und gerade einmal 80 Jahre ist es her, dass diese Entwicklung gestoppt wurde. Wobei Weise auch aufzeigte, dass etliche der antisemitisch und nationalsozialistisch eingestellten Theologen und Pfarrer auch nach Kriegsende, machmal mit etwas zeitlichem Abstand, weiter in den Kirchen arbeiten durften und auch weiterhin ihre antisemitschen und völkischen Thesen verbreiten konnten. Prominentester Vertreter war bis in die 70er Jahre hinein Walter Grundmann, Direktor des "Entjudungsinstituts". Seine Evangelienkommentare gehörten noch über Jahrzehnte hinweg zur theologischen Standartliteratur. 

Nach dem Vortrag bestand Gelegenheit zu Rückfragen an den Referenten und es wurde deutlich, dass dieser dunkle Teil der Kirchengeschichte immer noch kaum bekannt ist und der weiteren Aufarbeitung bedarf. Das Lutherhaus Eisenach bietet dazu eine gute Gelegenheit, u. a. mit der Sonderausstellung zum "Entjudungsinstitut".  

 

Michael Weise

Der Referent

Michael Weise, geb. 1986 in Konstanz, Studium der Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Projektmitarbeiter in der Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ an der JLU Gießen, Volontär bei der Stiftung Lutherhaus Eisenach, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Kurator bei der Stiftung Lutherhaus Eisenach, Leiter des Bereichs „Ausstellungen & Sammlungen“ und Kurator bei der Stiftung Lutherhaus Eisenach (seit 2023) u.a. Mit-Kurator der Sonderausstellung „Erforschung und Beseitigung. Das kirchliche‚ Entjudungsinstitut‘ 1939–1945“, mehrere einschlägige Publikationen und Rezensionen zur ev. Kirche in der NS-Zeit.


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Michael Weise  © 2025 Matthias Keilholz Vortrag Weise  © 2025 Matthias Keilholz